YETI-RESEARCH Projekt

Im Internet kursiert ein Meme, in dem sich den vier apokalyptischen Reitern ein weiterer Reiter anschließt. Einer der vier dreht sich ihm zu und fragt: „Und Du bist?“ Daraufhin antwortet der Neue: „Desinformation“.

Dieses Meme könnte in seiner Pointierung von Albrecht/d. sein. Natürlich war die zerstörerische Macht von Desinformation schon lange bekannt, bevor es den Begriff der Informationsgesellschaft gab. Mit der Entstehung der industriellen Gesellschaften und dem damit verbundenen Wachstum der Städte hatte die Bedeutung von Zeitungen zugenommen und damit der Kampf um die Information neue Bedeutung erlangt. Der Erste Weltkrieg war vom ersten Tag an ein erbitterter Propagandakrieg, der auf die totale Mobilisierung der Bevölkerungen der kriegführenden Staaten zielte.

Die völlige Entkopplung der erlebten einerseits und der medial verbreiteten Welt anderseits durch die totalitären Systeme der 1930er und 1940er Jahre setzte einen Höhepunkt, der in George Orwells Roman „1984“ seinen bis heute nachhallenden Niederschlag fand. Die Linie von Orwell zu den Beat-Autoren der 1960er Jahre, darunter William S. Burroughs mit seinen Cut-Up-Experimenten und dystopisch-collagehaften Romanen zu Künstlern wie Albrecht/d. ist kurz und direkt.

War Albrecht/d. zunächst stark an der Aktion interessiert, auf die etwa Fluxus als zentrales Element setzte, erweiterte sich sein Werk ab Ende der 1960er Jahre zunehmend auch um Agitation und das Aufgreifen und Präsentieren von Information, die im Mainstream der Medien eher unterrepräsentiert war oder dort keinen Eingang fand. Er recherchierte Hintergründe und stellte Zusammenhänge her. Das gestalterische Mittel des Ensembles ermöglichte die Visualisierung multipler Bezüge zwischen einzelnen Bildern und damit der Herausarbeitung von informativer Wahrheit. In seinem Zyklus „Drought in Africa“, den er 1974 im ICA in London erstmals zeigte, präsentierte Albrecht/d. eine Pionierarbeit journalistisch recherchierter Kunst.

1971 veröffentliche William S. Burroughs mit „Electronic Revolution“ einen Text über die Erzeugung von Unruhen durch akustische Manipulation. Die deutsche Übersetzung erschien 1972. Der Grundgedanke war, dass Unruhen erzeugt werden können, indem man Menschen unvermittelt dem Soundtrack von Unruhen aussetzt, ihnen also vermittelt, dass es Unruhen gäbe. Die Menschen würden verunsichert, folglich ihrerseits zur Tat schreiten und damit die Unruhen tatsächlich auslösen.

Fortan konnte es nicht mehr nur darum gehen, unterdrückte oder zensierte Information in die Galerien zu bringen, sondern auch den ungleichen Zwilling zu thematisieren. Wo Information zurückgehalten, oder verschwiegen wird, wird Information auch verfälscht und als Desinformation verbreitet. Wo Bilder als Beleg verdrängter Wahrheit präsentiert werden, mussten auch die Bilder zur Verdrängung der Wahrheit dokumentiert werden. Wer Collagen als zentrales Element seiner künstlerischen Tätigkeit nutzt, arbeitet immer auch mit der Dialektik von Information und Desinformation. Jede Collage ist manipulierte Information. So waren die Inszenierungen von totalitären Machthabern und ihrer vorgegaukelten Normalität von Anfang an Bestandteil der Ensembles von Albrecht/d., wie „CIA-Projekt“, „Violence Permanente“, oder „Violencia Paranoia“.

Information und ihren Missbrauch als Hauptthema griff Albrecht/d. explizit erstmals mit „Seifenoper \ Soap Opera“ in den 1980er Jahren auf. In einem Begleitschreiben zu „LaienSpielSchar / Amateur Theater Group“ spannt er den Bogen von seinen damaligen Arbeiten zu „LaienSpielSchar“ und fährt fort:

„ein anderes Projekt – das ‚YETI-PROJEKT‘ beschäftigt sich speziell mit Bildern als Desinformation und dem Hunger nach Aussergewöhnlichem – Schlangen hinter einem Gitter, tausende warten im Louvre, um einen Blick auf da Vincis ‚Mona Lisa‘ werfen zu können und gehen anschliessend achtlos an seinen anderen Bildern vorbei?“ Vom fokussierten Blick auf die „Mona Lisa“ der das Auge für die anderen Werke unempfänglich macht, ist es auch nicht weit zum Dieb, der auf einen anderen zeigt, und laut ruft. „Haltet den Dieb!“

Im August 2002 schuf Albrecht/d. in Paris eine Reihe übermalter Postkarten u.a. von Rembrand-Gemälden für „YETI-Research“.

So wie sich Gewalt und Krieg in jeglicher Form durch Albrecht/d.s Werk ziehen, die Zerstörung der Umwelt und die Entfremdung des Menschen, so spann er nun den roten Faden für Information/Desinformation fort, indem er die unheilvolle Bipolarität der Informationsgesellschaft / Desinformationsgesellschaft in den Mittelpunkt stellte, Jahre bevor QAnon oder russische Trollfabriken in den Schlagzeilen auftauchten und endgültig klar wurde, dass die virtuelle Welt womöglich noch mehr von Lügen und Fälschungen durchzogen ist als die analoge.

Ein zentraler Impuls für dieses Projekt waren die Terroranschläge vom 09. September 2001 und die darauffolgenden militärischen Aktionen der USA und ihrer Verbündeten. Der Yeti, ein Fabelwesen aus dem Himalaya, weist nicht nur auf eine räumliche Nähe zu Afghanistan hin, wo die USA seit 07. Oktober 2001 Krieg führten, sondern steht auch für Fälschung und Desinformation, tauchen doch immer wieder Fotos und Filme auf, die ihn oder zumindest seine Fußspuren angeblich zeigen.

„YETI-Research“ war der letzte begonnene, rudimentär gebliebene Zyklus im Werk Albrecht/d.s. Er hätte sich wie der neu hinzugekommene apokalyptische Reiter in dem Meme zum gesamten bisherigen Werk hinzugefügt. Seine Ausrichtung zusammen mit „Seifenoper“ und „LaienSpielSchar“ auf die Rolle von Information/Desinformation und Manipulation der Medien hätten Albrecht/d. die Möglichkeit gegeben, eine neue Brücke zwischen allen seinen bisherigen Zyklen zu schaffen.

Außer der knappen Erwähnung in dem Konzeptpapier zur „LaienSpielSchar“ ist über „YETI-Research“ kein Text von Albrecht/d. erhalten. Die im Nachlass gefundene Fülle an Collagematerial und Fotokopien u.a. von Bildern des brennenden World Trade Center spricht dafür, dass sich Albrecht/d. mit dem Thema sehr ausführlich beschäftigen wollte, und Pläne und Ideen für eine Vielzahl von Werken gehabt haben muss.