Documenta 6-Projekt

Vom 30. Juni bis 08 Oktober 1972 fand in Kassel die Documenta 5 statt. Sie gilt als die bislang wichtigste Documenta. Als Generalsekretär fungierte Harald Szeemann.

Bereits vor ihrem Beginn begann Albrecht/d. mit dem Projekt „Documenta 6“ als konzeptionelle Alternative zur inzwischen etablierten, aber auch zunehmend saturierten Documenta. In einem Beitrag zu „Die Schönheit muss auch manchmal wahr sein“ (7. Produzentengalerie Berlin, 1982), gab er den Starttermin des Projekts mit 1971 an, die Dokumentation „Bestandsaufnahme zu dem Projekt ‚Documenta 6‘ erschien mit dem Untertitel „Begonnen im Frühling 1972, Beendet im Sommer 1977“.

Damit erschien die Publikation nach rund fünfeinhalb Jahren konzeptioneller und redaktioneller Arbeit zur Documenta 6.

„nicht kunst sondern die analyse der KUNSTVERMITTLUNG war der gedanke für die gestaltung dieser MAMMUTSCHAU – das mammut is jestorben – die documenta noch nicht“, schreibt Albrecht/d. in „Die Schönheit muss auch manchmal wahr sein“.

Das Projekt „Documenta 6“ fügte sich ein in die Aktivitäten des „Unabhängigeren Olympischen Komitees“, das er mit Wolf Vostell und Günter Sarée im November 1971 etwa zeitgleich gegründet hatte, und das seinerseits eine Konzeption für eine künstlerisch-kulturelle Begleitung der Olympiade abseits des kommerzialisierten Kunstbetriebs entwickelte. Auch die begleitenden Veranstaltungen und Aktivitäten zur Ausstellung „Kunst im politischen Kampf“ im Kunstverein Hannover 1973, mit Albrecht/d., Joseph Beuys, KP Brehmer, Hans Haacke, Dieter Hacker, Siegfried Neuenhausen, Klaus Staeck und Wolf Vostell (Organisatoren: Christos M. Joachmides und Helmut R. Leppien) transportierten diesen Ansatz.

Bernd-Löbach-Hinweiser schrieb über „Kunst im politischen Kampf“: „interessant wurde die Ausstellung dadurch, dass die Künstler als Partner der Vermittlungsinstitution an der Konzeption der Ausstellung beteiligt wurden: In einem zweitätigen Colloqium wurden die von den Künstlern vertretenen Positionen bei der Thematisierung des Politischen in der Kunst herausgearbeitet, die Frage nach den Aufgaben und Möglichkeiten der Kunst unter den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen diskutiert und die politische Wirksamkeit von Kunst erörtert. Viel Zeit wurde organisatorischen Fragen gewidmet. Der Verlauf des Colloquiums wurde von Helmut R. Leppien, dem Leiter des Kunstvereins Hannover für den Katalog zusammengefasst.“ (Bernd Löbach-Hinweiser: „Albrecht/d. – Ein politisch engagierter Künstler“, Designbuch Verlag Cremlingen, 2005).

Albrecht/d., Joseph Beuys, KP Brehmer, Hans Haacke, Dieter Hacker, Gustav Metzger und Klaus Staeck stellten 1974 im ICA London unter dem Titel „Art into Society – Society into Art“ aus.

Das Projekt „Documenta 6“ lief also begleitend und parallel zu den Ausstellungen dieser Gruppe und ihrer Mitglieder. Die lange Laufzeit der „Bestandsaufnahme“ spiegelt damit auch Entwicklungen in der Kunst in dieser Zeit wider, die aus dem alleinigen Betrachten von Ausstellungen so unter Umständen nicht ersichtlich sind.

Sowohl Albrecht/d. als auch Wolf Vostell präsentierten konzeptionelle Ideen für eine alternative Documenta und Ansätze zur Kunstvermittlung.

Ein Kapitel der Dokumentation ist der Auseinandersetzung um „Berlin Now“ und der Einflussnahme des Deutschen Akademischen Austauschdiensts (DAAD) 1976 gewidmet, die zur Absage der Teilnahme seitens KP Brehmer, Günter Brus, Raimund Girke, Johannes Grützke, K.H. Hödicke, Bernd Koberling, Markus Lüpertz, Thomas Schmit und Wolf Vostell geführt hatte.

Ein weiteres Kapitel dokumentiert Schriftverkehr u.a. mit anderen Künstlern, die Unterstützung signalisierten und teilweise auch Vorschläge für weitere Beteiligungen machten. So schrieb der Paranoia Club London im September 1976: „Of course the postal crowd (well, some of them) should be included, and people like the naïve performance lady of Baker Street […], Monte Cazazza with an armoury of guns […], some popular culture stuff like Barabarella Comix, Clay Wilson Drawings, Tom of Finland stuff (you know the Kake comic strip mags?), some fetish mags (rubberwear news, Water & Power), and how about inviting some of the straight artists to do something they couldn’t do in the official documentary”.

Albrecht/d. griff nicht alle Vorschläge in der Dokumentation auf. Eine solche Kunstschau hätte aber den Rahmen des bisher gezeigten gesprengt und wäre ihrer Zeit weit vorausgewesen. Eine Zuschrift von Genesis P.Orridge ist in der Dokumentation vertreten. 1975 war er einer der Mitbegründer von Throbbing Gristle, mit denen Monte Cazazza ab 1977 mehrfach zusammen arbeitete. Aber S. Clay Wilson und Tom of Finland beispielsweise hätten auf einer Documenta in den 1970er Jahren Aufsehen garantiert. Die Distanzen zwischen den unterschiedlichen Bereichen der Kunst und subkulturellen Strömungen wurden in manchen Bereichen erst durch das Internet beseitigt, wo im Prinzip alles gleichwertig nebeneinander stehen kann.

Als die „Bestandsaufnahme“ zu dem Projekt ‚Documenta 6‘ erschien, hatte sie auf die bereits begonnene Documenta 6 natürlich keinen Einfluss mehr. Doch die Diskussionen um „die Vermittlung von Kunst im gegenwärtigen Stadium des Spätkapitalismus“ (Albrecht/d.) waren in der internationalen Kunst gesetzt und Albrecht/d. gab ihnen eine Plattform. Sie wurden von zahlreichen Künstlerinnen und Künstlern weltweit geführt, und sie flossen damit auch in gewissem Umfang in die Konzeptionen künftiger Documenta-Schauen ein. Die berechtigte Kritik an Darstellungen von Rassismus und Antisemitismus auf der Documenta Fifteen überschatteten den inzwischen etablierten globalen, auch auf diversifizierte und vielschichtige Kunstvermittlung gerichteten Gedanken der Documenta, der auch eine Forderung der Documenta-Kritiker um Albrecht/d. in den frühen 1970er Jahren gewesen war.