Ryosuke Cohen steht seit 1985 für ein komplexes und einzigartiges Mail Art-Projekt, das unter dem Begriff BRAIN CELL bekannt ist.
1999 verfasste er einen Text, der als Brain Cell-Manifest gelesen werden kann. Von diesem Text gibt es auch mindestens eine englische Übersetzung, die Yukio Teratani & Noriko Hidaka besorgten.
Die Übersetzung ins Deutsche übernahm Albrecht/d. im August 2000. Wir dokumentieren sie hier vollständig.
MAIL ART – BRAIN CELL – FRACTAL
(Kunst per Post – Gehirnzelle – Fractal)
Vor 15 Jahren erhielt ich einen Scarabäus-Käfer von Ruggero Maggi in Italien, anstatt einen Brief zu schreiben – ein Käfer oder Schmetterling mit bunten Flügeln, der Kinder erfreut. Das Insekt war voll von Schmutz und in einem durchsichtigen Umschlag eingeschlossen. Ich erinnere mich immer noch an den Tag danach, als ich mit Bryon Black bis tief in die Nacht über Maggi’s starke Kunstidee redete, die vom Amazonas inspiriert war. Black lehrte in diesen Tagen Video-Kunst an einer japanischen Kunstschule, er gab mir den Rat, meinen Namen „COHEN“ wie im Jüdischen zu buchstabieren und nicht wie im Japanischen richtig „KOUEN“, ich bin Japaner und 1948 in Osaka geboren.
Am Amazonas, in Südamerika, leben viele Arten kleiner Lebewesen, die voneinander abhängig sind, Ameisen, kleine Insekten, die sich unter abgefallenen Blättern verstecken, unter Farnen und in parasitären Flechten auf großen Bäumen, Schimmelpilze, die auf geschlagenem Holz heimisch sind, zusammen mit Riesenbäumen, Tieren oder Vögeln. Alles zusammen ergibt das Antlitz eines tropischen Waldes.
Der Mensch jedoch hat schrittweise die Erkenntnis gewonnen, zwischen nützlichen und unnützen Dingen zu unterscheiden. Wir unterscheiden zwischen großen Bäumen für den Hausbau und kleineren Bäumen, wir unterscheiden zwischen Essbarem und nicht Essbarem, wir machen Unterschiede zwischen Vögeln und Fischen, die gut als Haustiere geeignet sind, und anderen, die nicht dafür geeignet sind. Diese Attitüde, überall Unterschiede zu erkennen, ist mit eine Ursache für die Zerstörung der Natur im Kleinen und besonders bei den Grundlagen des Ökosystems am Amazonas. Diese negative Tendenz ist heute überall in Erscheinung getreten, nicht nur im Fall des Amazonas-Regenwalds, sondern überall auf unserem Planeten.
Diese Attitüde der Unterscheidung hat hier in Japan fürchterliche Fluten in der Taifunsaison verursacht. Starke Regenschauer haben die Wurzeln der Zedern und Hinokibäume freigespült, das Wasser führt zu riesigen Überschwemmungen. Im Frühling haben viele von uns Heuschnupfen. Die Ursache liegt in der Schwächung unseres Immunsystems. Wir sind für diesen Mangel selbst verantwortlich, wir pflanzten nur Koniferen auf der Erde und unser Lebensstil ist mit zu viel Sauberkeit belastet. Für die Lösung des Problems schlagen einige Ärzte vor, dass wir Parasiten in unseren Körpern halten, um die Immunisierung wieder zu erneuern.
Wir haben unseren Lebensstil in die Richtung „reich und bequem“ verändert, indem wir viele Dinge zur Seite geschoben haben, die wir bis jetzt noch gar nicht bemerkt haben. In diesem Zusammenhang verlieren wir, oder haben bereits tatsächlich viele Dinge verloren, die unser Leben gehaltvoll, reichhaltig und angenehm gestaltet haben. Wir sind umgeben von sozialen Problemen, Jugendkriminalität und Diskriminierung von nationalen Minderheiten in Verbindung mit ökologischen Problemen. In der Kunstwelt ist es auch nicht anders, die Leute unterliegen den gleichen Trends wie oben bereits erwähnt. Sie haben finanzschwache Organisatoren von außergewöhnlichen Galerien und Kunstausstellungen verdrängt. Sie haben sogar den Sinn, das Gefühl für die Kunst bei Schulkindern deformiert, bedingt durch das rigide Schulsystem, selbst ihre künstlerische Geschicklichkeit bedeutet heute nicht mehr viel. Sie haben genauso der Bedeutung euro-amerikanischer Werte in der Kunstkritik zu viel Platz eingeräumt.
In den letzten 100 Jahren hat der Planet die Hälfte die Hälfte des gesamten Waldes für die Weiterentwicklung unseres Lebens verloren. Nun stehen wir vor globalen Umweltproblemen wie saurer Regen, das Ozonloch, Klimaerwärmung usw. In dieser Zeit erinnert uns Ruggero Maggi’s Kunstprojekt „AMAZONAS“ daran, wirklich neu mit unserer Kunst zu beginnen.
In der Mail Art erweitert sich das Netzwerk von A nach B, B nach C, C nach D, D nach A, C nach A, usw. Es ist nicht beschränkt auf das Ansehen, auf Kommunikation durch direktes Anschauen. Es ist nicht nur so, dass Du etwas auf die Post collagieren kannst, die Du erhalten hast und diese Post wieder zurücksenden, nein Du kannst auch die Ideen von anderen wieder in Deine eigene Post übernehmen. Als ein ganzer Körper gesehen, erscheint das Netzwerk wie eine Gehirnkonstruktion mit unzähligen Zusammenstellungen und komplizierten Nervenzellen, die nicht mit einer linearen Ordnung zueinander stehen. So habe ich diesen Kunststil „BRAIN CELL“ genannt, und habe seit Juni 1985 die Mail Art um neue Formen ergänzt. Heute sind wir mehr als 5000 Mitglieder der Mail Art-Szene aus mehr als 80 Ländern, und die Posteingänge hatten eine Anzahl bis zu 442 Sendungen, wie im März 1999.
Ich habe ein neues Wort eingeführt „COPY LEFT“, das bedeutet – frei von „COPY RIGHT“, diese Bezeichnung auf Briefumschläge gestempelt und diese Stempelabdrücke in alle Welt verschickt. Jeder kann es machen, wie ich es tat, die Stempelabdrücke, Briefmarken, und Aufkleber von anderen Künstlern verwenden und an andere Künstler weitersenden. Auf diese Weise ändert die Mail Art häufig ihre Erscheinungsform und ihre Konzeption in unvorstellbarer Art, die ein individuell arbeitender Künstler kaum so erschaffen könnte.
ANDREI TISNA und NENAD BOGDANOVIC sandten mir den Stempel „NO-ISM“ aus Jugoslawien. „NO-ISM“ bedeutet, dass es keine Ideologie in der Mail Art gibt. „NO“ bedeutet im Japanischen „GEHIRN“ (engl. BRAIN). So verwende ich den Doppelsinn von „NO“ in der Bedeutung von „Nicht-Existenz“ und „Gehirn“, ich habe „NO-ISM“ Stempelabdrucke als Stempelaufkleber in alle Welt versandt, manchmal auch wieder zurück erhalten. In meinem alltäglichen Leben erhalte ich sehr gern viele verschiedene Arten von Material, Postkarten, Fotokopien, Collagen, Zeichnungen, Computergrafiken, Ausstellungskataloge, Fotos und Tonbandkassetten per Post, Fax, E-Mail und Internet. Ich beobachte, dass in der umfangreichen Welt der Mail Art jede Art von „Ismus“ mehr in einer Art Chaos verschwindet. Kein Wunder, es überlebt oder herrscht keine einzeln ausgerichtete Ideologie.
Einst formulierte Ray Johnson in einem Statement, Mail Art ist keine einzelne Kunstbewegung, sondern ein Megatrend, der darin besteht, dass wir unser Bewusstsein verändern können.
Vielen Künstlern war das „TOURISM“-Konzept der Schweizer Künstlers H.R. Fricker in der Tat sehr sympathisch. Ich hatte auch verschiedene Gelegenheiten zu reisen und habe Freundschaften mit vielen Mail-Art-Künstlern geschlossen, als ich Europa 1987, Nordamerika 1989 und wieder Europa 1990 besuchte.
So war ich in der Lage, die Trends der Mail Art zu erspüren und einen Überblick über die vielfältige Situation mir zu verschaffen. Ich erhielt völlig andere Erfahrungen gegenüber denen zuhause, wenn ich mit mir selbst beschäftigt bin, Kunst herstelle oder Kunst arrangiere, im Gegensatz hierzu beim direkten Kontakt mit den befreundeten Künstlern mehr dazu lernte. Einige lebten in einer sehr natürlichen Art und Weise, andere waren sehr stark für den Frieden sensibilisiert. Für sie war es sehr wichtig, ihre Kunst sehr intensiv zu gestalten. Alle hatten irgendwelche finanziellen und politischen Probleme, die Kommunikation per Post half ihnen bei der Bewältigung der Probleme, das ergibt einen sehr positiven Aspekt der Mail Art.
Ich empfand ihre Sicht der Dinge und ihre Wirklichkeit grundsätzlich verschieden von unserer japanischen Erfahrung.
Mit diesem „TOURISM“-Konzept erkannt ich während der Reisen, dass sich die Wahrnehmung der Kunst und das Sehen des Künstlers der Wirklichkeit verändert. Das Ziel ist nicht wie der normale Tourismus mit seiner Sucht viele Plätze und Sehenswürdigkeiten zu sehen.
Die Deutschen ANGELA und PETER haben das „TOURISM“-Konzept weltweit in die Praxis umgesetzt, sie sandten mir Post aus der ganzen Welt. Ich denke mir, dass ihre Erfahrungen weit über unsere Vorstellungen zur Mail Art hinausgehen und Erkenntnisse für die Zukunft bringen, die den Sinn dieser Kunst erklären.
Ich habe seit 1997 Post mit dem Konzept „FRACTAL“ in Ergänzung des bis jetzt gebrauchten Begriffs „BRAIN CELL“ versandt. „FRACTAL“ ist ein Begriff für gleichartige Figuren aus visuellen Formen, die die visuelle Komponente mathematischer Rechenexperimente darstellen, vom Computer mit entsprechenden Prorammen ausgedruckt, das Wort wurde von den französischen Mathematiker B. Mandelbrot im IBM Watson Institute geprägt (Anfangs nannte man diese Visualisierungen deshalb auch „Mandelbrot-Männchen“ – Anmerkung des Übersetzers Albrecht/d.).
Picasso und Cezanne waren von afrikanischen Skulpturen beeinflusst, Van Gogh durch Hokusai und Hiroshige, Pollock durch Dali und Miró, so sind wir durch eine größere Zahl von bekannten Künstlern beeinflusst, den Dadaisten und Fluxus. Ich unterrichte Kunst in einer Schule für Kinder seit 25 Jahren. Schließlich bin ich in die Information, Erziehung der Kinder eingebunden, es ist eine physische Herausforderung und ich bin auch von den Kindern stark beeinflusst.
In mir existieren Fragmente jener Künstler und der Kinder. Diese Dinge und die Originalfragmente des Denkens schließen sich nicht aus, wie die Stacheln am Kaktus, sondern entwickeln alles zu einer noch größeren Steigerung. Solch eine Sicht gibt mir ein echtes Gefühl , dass ich an der Arbeit von anderen Künstlern wirklich partizipiere, eine persönliche Erfahrung frei von Bezügen zu Copy Right, die Organisation von „Meisterwerken“ mit den Arbeiten anderer Künstler, das bedeutet die Freiheit des Wortes „COPY LEFT“, ohne Verbindungen zu Ideologien zu haben, das ist der Begriff „NO-ISM“!
Ich denke, wenn ich jeden Tag Mail Art herstelle, ist diese Mail Art ein dynamisches Medium. Besser ausgedrückt, diese Mail Art besteht nur aus Dynamik!
So kannst Du mehr sein, als nur ein Individuum, in der Lage, frei die Kunst mit einem neuen Geist zu produzieren, besser noch, ein Bruchstück des gesamten Netzwerks zu sein und diesen Anteil mit vielen anderen Künstlern zu teilen.
Ryosuke Cohen, März 1999
Webseite von Ryosuke Cohen mit Brain Cell Archiv.